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Wahlen Themen... Überhangmandate in Nordrhein-Westfalen
Zu den ersten und wichtigsten Projekten der neuen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen gehörte nach der Landtagswahl 2005 die Änderungen im Wahlrecht zu dem Landtags- und Kommunalwahlen. Während bei den Kommunalwahlen die umstrittene Abschaffung der Stichwahl bei den Wahlen zu den Oberbürgermeistern, Bürgermeistern und Landräte von sich Reden machte, liegt hinsichtlich des neuen Wahlrechts zur Landtagswahl die Regelung zu den Direktmandaten im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Zunächst jedoch ein kurzer Rückblick auf das bisherige Landtagswahlrecht: Bislang hatten die Wähler/innen in Nordrhein-Westfalen bei den Landtagswahlen nur eine Stimme. Mit dieser wählten sie zugleich die Parteienliste und den Direktkandidaten. Wer die relative Mehrheit im Wahlkreis hatte, hatte den Wahlkreis direkt gewonnen. Eine Aufspaltung der Stimmen wie bei Wahlsystemen, in denen eine Erststimme für den Wahlkreiskandidaten und eine Zweitstimme für die Parteienliste gibt, war nicht möglich. Zudem gab es in diesem Wahlrecht eine weitere Besonderheit, die insbesondere kleine und neue Parteien benachteiligte: Um auf dem Stimmzettel im Wahlkreis zu erscheinen, mußte die jeweilige Partei einen Direktkandidaten stellen. Gelang es der Partei nicht, die dafür notwendigen Unterschriften zu bekommen, gab es in dem betreffenden Wahlkreis nicht nur keinen Wahlkreiskandidaten, sondern die Partei stand in dem Wahlkreis gar nicht auf dem Wahlzettel. Je weniger Wahlkreise eine Partei mit einem Direktkandidaten ausstatten konnte, desto schwieriger wurde es, die Fünf-Prozent-Hürde zu schaffen, denn - wie erwähnt - fielen in den betreffenden Wahlkreisen auch die Listenstimmen weg. Mit der Trennung von Direktkandidat und Listenstimme entfällt nunmehr auch diese besonders neue Parteien diskriminierende Regelung. Jede zugelassene Partei erscheint landesweit auf dem Wahlzettel. Die Wähler/innen können nun auch ihre Stimmen spalten: Erststimme zum Beispiel für CDU oder SPD, Zweitstimme für Grüne, Linke oder FDP. Hierin wird auch landläufig einer der Vorteile des neuen Wahlrechts gesehen: Man kann »Koalitionen wählen«, was allerdings eher eine Illusion ist. Denn letztlich hängt das Verhältnis der Parteien im Landtag von der Verteilung der Zweitstimmen ab. Hier hat man sich in Nordrhein-Westfalen entschlossen, dem Prinzip der Verhältniswahl absolute Priorität einzuräumen: Überhangmandate werden so weit ausgeglichen, daß das Zweitstimmenergebnis wiederhergestellt ist. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimmen gewinnt - hier kommt das Mehrheitswahlrecht zum Zuge, denn der Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereint, gewinnt den Wahlkreis -, als ihr nach Zweitstimmen zustehen. Stünden einer Partei zum Beispiel entsprechend des Zweitstimmenergebnisses 50 Sitze zu, während sie jedoch über die Erststimmen 55 Direktmandate gewonnen hat, erhält sie fünf Mandate mehr als ihr eigentlich zustehen. Sie hätte somit fünf Überhangmandate. Damit es nicht zu einer Verzerrung des Ergebnisses der Verhältniswahl kommt, die auch das nordrhein-westfälische Wahlrecht dominiert und über die Zweitstimme hergeleitet wird, erhalten die anderen Parteien in einem solchen Fall Ausgleichsmandate. Die Zuteilung von Ausgleichsmandaten ist nicht zwingend Bestandteil der personalisierten Verhältniswahl, wie dieses Wahlrecht genannt wird. Auf Bundesebene werden Überhangmandate nicht ausgeglichen, was im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 zu einer Diskussion um die Frage geführt hatte, welche demokratische Legitimation eigentlich eine Regierung besitzt, die nach Verhältniswahl eigentlich keine Mehrheit hat, sondern diese nur durch Überhangmandate hergestellt hat. Entgegen mancher Prognosen trat der Fall auf Bundesebene nicht ein, jedoch in Schleswig-Holstein, was auf die fragwürdige Begrenzung beim Ausgleich der Überhangmandate zurückzuführen war. In Schleswig-Holstein gibt es im Wahlrecht eine Begrenzung beim Ausgleich von Überhangmandaten, was verhindern soll, daß sich der Landtag bei einer entsprechenden Zahl von Überhangmandaten stark vergrößert. Die CDU erreichte elf Überhangmandate, und das Wahlrecht in Schleswig-Holstein sieht vor, daß auch nur diese elf Überhangmandate ausgeglichen werden, also 22 Mandate zusätzlich vergeben werden. Diese wurden entsprechend des Verteilungsschlüssels auf die im Landtag vertretenen Parteien verteilt, was dazu führte, daß die CDU nur acht Überhangmandate über diese Mandatsverteilung bekam. Weil ihr aber die drei weiteren Überhangmandate nicht aberkannt werden können, bekam die CDU diese drei weiteren Überhangmandate zusätzlich. Nun entstand jedoch eine gerade Zahl von Mandaten, was entsprechend des Wahlrechts nicht zulässig war. Entsprechend der Reihenfolge der Mandatszuteilung fiel dieses weitere Mandat an die FDP, mit der die CDU eine Koalition bildete. Im Ergebnis hatten CDU und FDP zwar nach Zweitstimmen keine Mehrheit, konnten aber dennoch regieren. Ein solcher Fall wird in Nordrhein-Westfalen nicht eintreten, denn der Ausgleich von Überhangmandaten ist im NRW-Wahlrecht nicht begrenzt. Mit den Ausgleichsmandaten wird in Nordrhein-Westfalen das Zweitstimmenergebnis somit in jedem Falle hergestellt, wobei auch in Nordrhein-Westfalen die Regel gilt, daß eine ungerade Zahl von Sitzen in jedem Falle herbeizuführen ist. Dies bedeutet jedoch auch, daß die zugrundegelegte Zahl von 181 Sitzen im Landtag weit überschritten werden kann, denn in Nordrhein-Westfalen werden - anders als in anderen Bundesländern mit personalisierter Verhältniswahl und im Bund - nicht die Hälfte der Sitze des Landtags über Direktmandate aus dem Wahlkreis besetzt, sondern fast Dreiviertel, genauer gesagt: Von den 181 Sitzen werden 128 über Direktkandidaten aus den Wahlkreisen besetzt. Dies kann dazu führen, daß eine Partei besonders viele Überhangmandate erreicht, insbesondere wenn sich der Trend der vergangenen Wahlen im Bund und anderen Bundesländern fortsetzt, daß sich die großen Parteien annähern und es in den Wahlkreisen zu vielen knappen Wahlausgängen kommt, bei denen Kandidaten die Wahlkreise bereits mit einem Drittel der abgegebenen Stimmen gewinnen. In Schleswig-Holstein als einem verhältnismäßig kleinen Land, in dem auch nur die Hälfte der Landtagssitze über Direktmandate besetzt wird, hat dies bereits zu elf Überhangmandaten für die CDU geführt. Zu beobachten ist auch, daß die »kleinen« Parteien zunehmend mehr Erststimmen bekommen, auch wenn der Kandidat kaum eine Chance hat, den Wahlkreis zu gewinnen. Diese Stimmen fehlen indes den Kandidaten der »großen« Parteien, was zunehmend regelmäßig dazu führt, daß der Kampf um die Wahlkreise knapp entschieden wird. Der Wegfall von Hochburgen der großen Parteien, beziehungsweise die mangelnde Entstehung solcher in den neuen Bundesländern, tut ein Übriges. Letztlich wirken Hochburgen in Bundesländern, in denen regelmäßig auch die jeweilige große Oppositionspartei zahlreiche Direktmandate erzielt, ausgleichend hinsichtlich der Zahl der Überhangmandate. Schleifen sich diese Hochburgen ab, wie in der Vergangenheit zu beobachten, besteht die Möglichkeit, daß eine Partei, die landesweit gerade mal auf 37 oder 38 Prozent kommt, über die Erststimmen alle oder eine große Zahl von Direktmandaten gewinnt. Diese Entwicklung widerlegt auch zunehmend das Argument, daß ein personalisiertes Verhältniswahlrecht »Koalitionswahlen« ermöglicht, denn dies entspricht immer weniger dem Verhalten der Wähler/innen. Diese Entwicklung ist besonders für die SPD problematisch, die sich nicht auf Erststimmen von Zweitstimmen-Wähler/innen von Grünen und Linke. verlassen kann. Zwar ist auch bei der FDP zu beobachten, daß die Zahl der Erstimmen sich zunehmend der der Zweitstimmen angleicht, jedoch trifft dies - wie man in Schleswig-Holstein sehen konnte - die CDU nicht so hart wie die SPD. Für Nordrhein-Westfalen ist dies insofern von untergeordneter Bedeutung, als daß Überhangmandate bis zum letzten Überhangmandat ausgeglichen werden. Allenthalben führt eine große Zahl von Überhangmandaten zu einem großen Landtag. Am Ende liegt es letztlich bei den Wähler/innen, wie sollte es auch anders sein. Die Erfahrungen aus der Debatte um die Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2009 zeigen indes, daß es zwar viele Experten gibt, die gerne publikumswirksam mit großen Zahlen hantieren und Szenarien an die Wand malen, die mathematisch zwar möglich, in der Realität jedoch kaum wahrscheinlich sind. Auch wenn die Größe des nächsten Landtags nicht vorhersehbar ist, können die Wähler/innen in Nordrhein-Westfalen zumindest insofern beruhigt sein, als daß die Überhangmandate die Sitzverteilung nicht in der Weise verfälschen werden, wie es in demokratietheoretisch problematischer Weise in Schleswig-Holstein geschehen ist. © Udo Ehrich 17.03.2010 |